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Session 04:Reisen statt Psychopharmaka

Impulsgeber: Michael Otremba

Reisen kann heilsam sein – körperlich, geistig, psychisch, ja sogar gesellschaftlich. Doch die gesundheitsfördernde Wirkung des Reisens ist bislang unbelegt und damit kommunikativ unterbelichtet. Die vierte Session machte deutlich: Es braucht eine neue Sprache für den Tourismus. Eine, die nicht nur Übernachtungen zählt, sondern Sinn stiftet – für Menschen, Orte und Systeme.

Reisen gilt intuitiv als gesundheitsförderlich. Doch es fehlt an Daten, Strategien und politischer Durchschlagskraft. Das Thema mentaler Gesundheit ist gesamtgesellschaftlich hochaktuell – die Krankenkassen beziffern stressbedingte Erkrankungen mit über 56 Mrd. Euro (2022). In seinem Impuls zur Frage „Ersetzt das Reisen Psychopharmaka?“ beleuchtete Michael Otremba die tiefe Verwurzelung des Reisens als „menschliche Ursehnsucht“. 

Der Geschäftsführer von Hamburg Tourismus forderte die Tourismusbranche auf, ihre eigene Relevanz neu zu definieren und zu kommunizieren. Er rückte die gesellschaftliche Relevanz des Tourismus in den Mittelpunkt und plädierte für eine radikale Neupositionierung: Reisen als Gesundheitsressource – mit strukturellem, politischem und kulturellem Impact.

Psychische Erkrankungen wie Burn-out, Erschöpfungssyndrome, stressbedingte Krankheiten kosten die Deutschen jährlich 56 Milliarden Euro, führte Otremba aus: „Wieviel mehr müssten wir bezahlen, wenn die Menschen nicht reisen könnten, um Freunde, Verwandte oder liebe Menschen zu treffen? Die emotionale Isolation wächst und wächst. Aber Reisen hilft, neue Energie zu schöpfen, die Balance zu finden, Stress abzubauen, stärkt die mentale Gesundheit und hilft, glücklicher zu sein.“

Reisen kann eine Superkraft sein

Aber es gibt keine relevante Studie zum Zusammenhang von Reisen und mentaler Gesundheit – dafür Hunderte zu Übernachtungen, Herkunft, Aufenthaltsdauer usw. Die umfassendere Wirkung des Tourismus für die Lebensqualität wird oft unterschätzt und die Angebote vor Ort für die Einheimische nur unzureichend gewürdigt. 

Die mehr als 50 deutschen Tourismusorganisationen müssten ihre individuellen Agenden überwinden und eine gemeinsame gleichlautende Botschaft formulieren. Das sei unerlässlich, um eine höhere gesellschaftliche und politische Relevanz für den Tourismus zu erlangen. 

Wenn alle im Tourismus aktiven Organisationen – von Campingwirtschaft bis Hotellerie, Clubs, Kreuzfahrtindustrie, Wander- und Radverbänden usw. – unisono betonen würden, welche Superkraft Reisen entfalten kann, wie Reisen die mentale Gesundheit und Ausgeglichenheit stärkt, dann hätten wir ein neues Narrativ und eine gemeinsame Botschaft – dann würden die Stakeholder aufhorchen. 

Visionäre, Realisten, Kritiker

Nach dem emphatischen Impuls waren die Teilnehmenden gefragt: Angelehnt an die Walt-Disney-Methode wurden drei Gruppen gebildet, die Argumente von Visionären, Realisten und Kritikern zu zwei Fragen zusammentrugen:

  1.  Was kann jede:r tun, um der Branche eine neue Relevanz zu geben? 
  2. Wie kann Reisen eine gesunde, resiliente Gesellschaft unterstützen?

Visionäre mit revolutionären Ideen:

  • DMO in „FGO“ (Feel Good Organisation) umbenennen.
  • Von „Reisenden“ statt von „Touristen“ sprechen, um eine positivere Konnotation zu schaffen.
  • Repräsentative Studie über die gesundheitliche Bedeutung des Reisens.
  • Berechnung wirtschaftlicher Vorteile des Reisens für die Krankenkassen.
  • Einführung von mehr Urlaubstagen, um mehr reisen zu können.
  • Schulfach „Reisen“ mit obligatorischen Auslandsreisen zur Horizonterweiterung.
  • Forcierung frühkindlicher Reisen „vor der Haustür“.
  • Innovative Mobilitätslösungen wie ein 0-Euro-Ticket für den ÖPNV oder vergünstigte Tickets bei Nachweis einer Reise.
  • Weltweites „Reise-Change-Programm“ zum Wechsel des Arbeitsortes.
  • Medienpräsenz durch Reiseberichte in der Tagesschau (analog Wetterberichte).
  • „Reisen auf Rezept mit Konzept“.
  • Politiker für Tourismusämter müssen Reiseerfahrung und einen touristischen Hintergrund nachweisen.
  • Sammeln von „Gesundheits Punkten“ durch Reisen für geringere Krankenkassenbeiträge.
  • Schaffung eines einzigen „Clubs“ anstelle der über 50 Verbände („Weg mit dem Muff“).
  • Botschaften des Tourismus stärker nach außen tragen.
  • Die heilsamen Effekte des Reisens laut kommunizieren.
  • Neues Medienformat „Reisewoche im ZDF“.
  • „Reisen dient der Gesundheit“ und dieses Narrativ wird extern kommuniziert.

Realisten konzentrieren sich aufs Machbare

  • Eine bundesweite Studie zur Wirksamkeit des Reisens auf die mentale Gesundheit.
  • Studie sollte durch offenen Brief an den DTV gefordert und auf der ITB präsentiert werden.
  • Präsenz in relevanten Gremien und die Schaffung von Verbündeten innerhalb und außerhalb der Branche.
  • Bewusstsein dafür schaffen, dass Reisen resilienter und gesünder macht.
  • Einführung eines branchenweiten Bewertungssystems, um z.B. mit Smileys die Befindlichkeit vor und nach der Reise sichtbar zu machen.
  • Ziel: das generierte Glücksgefühl messbar machen.

Die Kritiker melden Vorbehalte an:

  • Mentale Gesundheit sei kein messbares KPI.
  • Tourismus bringe nur Probleme für Einheimische, Reisen schade der Umwelt.
  • Stakeholder denken nur an sich, sie seien nicht „unter einen Hut“ zu bringen.
  • Politiker:innen hören ohnehin nie zu.
  • Politisch unterstützte Regelungen sind wichtig.
  • Kommunikation der politischen Relevanz des Tourismus ebenso.
  • Statt von „Locals“ und „Touristen“ sollte von einer „Gemeinschaft“ gesprochen werden.
  • Das Gemeinschaftsgefühl würde zum Abbau von Rassismus und zum Aufbau einer stärkeren Wertegemeinschaft führen.
  • „Krankenkasse“ soll durch „Gesundheitskasse“ ersetzt werden.
  • Es soll „Gesundheitsurlaub“ zur Prävention von Krankheiten geben.

Eines machte der Perspektivwechsel deutlich: Vision und Realität kommen nur zusammen, wenn alle Rollen im Gespräch bleiben. Nur wenn der Tourismus konsequent als Gesundheits- und Resilienzfaktor entwickelt und kommuniziert wird, kann eine neue politische Legitimation für Förderungen, Projekte und Budgets entstehen. Dann könnte auch die Branche gesellschaftlich relevanter werden.

Zum Download

Deutsches Institut für Tourismusforschung, FH Westküste: „Die schönste Zeit
des Jahres?“: Effekte von Urlaubsreisen auf Erholung, Gesundheit und Wohlbefinden
der Reisenden, Working Paper 5.

Zum Arbeitspapier