
Vertiefungssession: Prinzipien eines neuen Tourismusverständnisses
Impulsgeber: Catharina Riess
Tourismus heute agiert im Spannungsfeld von wirtschaftlichem Erfolgsdruck und leeren kommunalen Kassen. Er wird traditionell als freizeitgebundene Aktivität betrachtet, gehört kommunalpolitisch zu den „freiwilligen Aufgaben“, muss aber immer mehr Anforderungen gerecht werden und zusätzliche Aufgaben übernehmen.
Inhalt:
Sein traditionelles Selbstverständnis und die fortgeschriebenen Kennzahlen sehen im Tourismus bestenfalls den Wirtschaftsfaktor – doch tatsächlich ist er in vielen Destinationen längst zum harten Standortfaktor geworden. Als „Qualitätstourismus“ ist er noch mehr: Impulsgeber für den Wirtschaftsraum, den Lebensraum, den Erlebnisraum und die ökologische Umwelt.
In ihrer Einleitung zur Vertiefungssession zum Themenstrang „Politik und Tourismus“ lenkten die beiden Moderatoren Cornelius Obier und Peter C. Kowalsky von Project M den Blick der Teilnehmenden deshalb auf die „Visitor Economy“.
In der Definition der UNWTO umfassen „Visitors“ alle Besucherinnen und Besucher, die kurz oder länger in eine Destination kommen, sich dort vorübergehend aufhalten, dort leben oder arbeiten. Sie alle nutzen touristische und Kultur- oder Freizeitangebote und lösen Effekte aller Art aus – nicht zuletzt auch ökonomische Effekte.
Visitor Economy setzt Project M mit dem Begriff „Erlebnisökonomie“ gleich und weitet damit den Fokus des Tourismusverständnisses auf die ganzheitliche Entwicklung von Destinationen als Freizeit-, Begegnungs- und Erlebnisräume, die gleichermaßen von Gästen wie auch von der lokalen Bevölkerung gleichwertig genutzt werden.
Im Fokus: Erlebnisökonomie
Mit dem Fokus auf Erlebnisökonomie verschieben sich die Aufgaben der DMO noch weiter in Richtung Management von Erlebnisräumen. Sie muss mit noch weit mehr Stakeholdern zusammenwirken, um Service- und Erlebnisqualität sowie eine richtige und zuträgliche Auslastung und Wertschöpfungsverteilung sicherzustellen.
Wie kann das gelingen? Wie kann Tourismus als gestaltende Kraft in der Stadt- und Regionalentwicklung verankert werden? Dazu wurden schon im Vorfeld der Session leitende Touristiker:innen aus dem In- und Ausland gefragt und im Video eingesteuert (Zu den Statements).
Catharina Riess, die Leiterin des Medienhauses von Wien Tourismus stellte danach „Optimum Tourism“ vor. Dieses „Wiener Modell“ steht für ein „gesundes Wachstum, um nicht zu zerstören, wofür Wien geliebt wird“. Optimum Tourism steht in der Verteilungskurve genau in der Mitte zwischen Undertourism und Overtourism.
Das Wiener Modell bedeutet …
- hohe Lebensqualität
- Nachhaltigkeit
- Tourismus, von dem Alle profitieren
- Ganzjahresjobs und keine saisonale Abhängigkeit
- Vermeidung von Monokulturen
- Schutz des öffentlichen Raumes
- internationale Wettbewerbsfähigkeit
Optimum Tourism definiert drei Ziele
Durch gezieltes Marketing wird der „Wunschgast“ erreicht und 2/3 der Gäste sollen in Zukunft diesem Profil entsprechen (aktuell ca. 50 %)
der Übernachtungen werden aus dem Bereich „Meeting-Teilnehmer:innen“ generiert
der Einheimischen sehen den Tourismus (weiterhin) positiv für ihre Stadt und ebenso viele Gäste empfehlen auch in Zukunft Wien als Destination weiter.
Die Zielmarke 90 % soll gehalten werden. Sie bildet den „Sweet Spot“ des Optimum Tourism – der Punkt wo sich die Akzeptanz der Bewohner mit der Zufriedenheit der Gäste die Waage hält. Gehen diese beiden Faktoren auseinander, droht eine Schieflage. Dann greift in Wien das Konzept des „Destination Stewardship“ und es wird im Einklang mit den Strategien und Zielen der Stadt korrigierend eingegriffen.
Orientierung und Kompass für Destination Stewardship ist das von der UN etablierte „Sustainable Tourism Observatory“. Das Instrument ist das Herzstück der Zusammenarbeit mit den Akteuren und Akteurinnen der Visitor Economy. Es misst und überwacht transparent die Auswirkungen des Tourismus auf Umwelt, Wirtschaft und die Lebensqualität der Bewohner. Im Fokus stehen elf Nachhaltigkeitsbereiche: Governance, Energiemanagement, (Ab-)Wassermanagement, Abfallmanagement, Klimaschutz, Tourismusakzeptanz, Wirtschaftliche Effekte, Barrierefreiheit, Saisonalität, Arbeitsmarkt und Mobilität.
Wien ist der internationalen UN-Nachhaltigkeitsinitiative von mehr als 40 Destinationen im April 2025 beigetreten.
Der Begriff klingt in deutschen Ohren gewöhnungsbedürftig und ist eigentlich nicht zu übersetzen. Er könnte in der Aufgabenzuweisung an die DMO den unrealistischen (und historisch belasteten) Anspruch eines Lebensraum-Managements ersetzen. Destination Stewardship meint die ganzheitliche Verantwortungsübernahme für die Destination: Betriebe in Hotellerie, Gastronomie und Kulinarik, Kunst und Kultur, Freizeit und Handel, die Meeting Industry, Politik und -verwaltung und viele weitere Partner – nur wenn alle in ihrem Bereich Verantwortung für die verträgliche, qualitätsvolle und nachhaltige Entwicklung übernehmen, kann die Destination sinnvoll wachsen.
Zwei Arbeitsgruppen zu zwei Destinationsszenarien
Nach den ausführlichen Impulsen beleuchteten die Teilnehmenden der Vertiefungssession in zwei Gruppen zwei mögliche Entwicklungsrichtungen für Destinationen:
a. Tourismusorganisationen mit ausgeprägtem Schnittstellen- undStakeholdermanagement zu Stadt-/ Regionalentwicklung
b. integrierte Organisationen für Tourismus und Stadt-/Regionalentwicklung
Im ersten Schritt der Gruppenarbeit ging es darum, drei Ansatzpunkte zu erarbeiten, mit denen sich Tourismus als Erlebnisökonomie (Visitor Economy) als gesellschaftliche und wirtschaftliche Chance für die Stadt / Region gemeinsam besser ausrichten, einsetzen und inhaltlich aufladen lässt.
Die Gruppen sollten sowohl die Perspektiven der DMO als auch der Kommune beleuchten, dann die Hürden auf dem Weg zur Umsetzung einer Erlebnisökonomie identifizieren und schließlich Maßnahmen zu deren Überwindung erarbeiten.
Drei Thesen zum aktuellen Tourismusverständnis
Angeregt wurden die Diskussionen in den Gruppen durch drei Thesen, die Project M voranstellte:
- Tourismus wird gegenwärtig in Öffentlichkeit und Politik vielerorts noch nicht als Leitökonomie sowie Gestaltungspartner für Standort- und Lebensqualität verstanden und gerät angesichts
der Einordnung als freiwillige, branchenorientierte Wirtschaftsförderung zunehmend in Legitimations- und Finanzierungsprobleme. - Unser eigenes, teils noch immer tradiertes Tourismusverständnis prägt die Wahrnehmung des Tourismus in Öffentlichkeit und Politik. Um Tourismus mit entscheidender Relevanz für die Daseinsvorsorge zu positionieren, müssen wir uns inhaltlich, strukturell und kommunikativ verändert aufstellen.
- In einer Erlebnisökonomie (Visitor Economy) kann der Tourismus zur treibenden Kraft für eine nachhaltige Stadt- / Regionalentwicklung werden. Aufgaben, Strukturen und Finanzierung passen sich der veränderten Aufgabenstellung an.
Im Ergebnis der dreistufigen Gruppenarbeiten war klar, dass es sich um eine tatsächliche Zäsur handelt: Ein Tourismusverständnis, das sich an den Prinzipien der Erlebnisökonomie (Visitor Economy) ausrichtet, stellt Destinationen, Politik und Tourismus vor weitreichende Herausforderungen.
Die DMO vollziehen einen wertezentrierten Paradigmenwechsel. Sie werden in der erlebnisökonomisch ausgerichteten Destination zur zentralen Schlüsselorganisation, die all diese Prinzipien in ihrem Handeln integriert.
Sie steuert Kompetenzen und Knowhow in alle politischen Ebenen ein und arbeitet eng mit regionalen Entwicklungs- und Wirtschaftsorganisationen zusammen, um ein gesundes Wachstum und eine nachhaltige Zukunftsfähigkeit für Locals und Visitors im Sinne der Erlebnisökonomie zu sichern.
Buzzwords neu framen
Diese Zäsur bedingt auch ein neues Framing der Begrifflichkeiten: Statt um das „Management des Lebensraumes“ sollte sich die DMO der Zukunft um „Destination Stewardship“ bemühen. Und der Begriff „Stakeholder“ muss unter Berücksichtigung der sozialen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen des Tourismus erweitert werden:
Ein Stakeholder im neuen Tourismusverständnis ist jede Person oder Gruppe, die direkt oder indirekt vom Tourismus betroffen ist. Aber vor allem jede Person oder Gruppe, die aktiv zur Gestaltung, Entwicklung und zum nachhaltigen Management der Destination beitragen kann und soll, um das Gemeinwohl zu fördern.
Neue Prinzipien des Tourismusverständnisses
Nachhaltigkeit & Allgemeinwohl als übergeordnetes Prinzip
Sie müssen ökologisch, sozial und ökonomisch in jede touristische Aktivität integriert werden.
Bildung und Bewusstseinsbildung
Reisen hat das Potenzial, den Horizont zu erweitern und das Verständnis für andere Kulturen und Lebensweisen zu fördern.
Partizipation und Stärkung der lokalen Gemeinschaften
Die lokale Bevölkerung muss durch ein kollaboratives Governance-Modell aktiv in die Planung, Entwicklung und Durchführung touristischer Angebote einbezogen werden.
Authentizität und Respekt vor der lokalen Kultur
Der Tourismus der Zukunft muss die Einzigartigkeit jeder Destination wertschätzen. Reisende sollten ermutigt werden, sich mit der lokalen Kultur, den Traditionen und der Lebensweise respektvoll auseinanderzusetzen.
Qualität vor Quantität
Statt auf maximale Besucherzahlen zu setzen, sollte der Fokus auf qualitativ hochwertigen Erlebnissen liegen, die einen Mehrwert für Reisende und die Destination schaffen.
Resilienz und Anpassungsfähigkeit
Es gilt robuste, anpassungsfähige und regenerative Tourismussysteme zu entwickeln, die widerstandsfähig gegenüber externen Faktoren sind und sich an veränderte Bedingungen leicht anpassen können.
Schritte zur zukunftsfähigen DMO
Mikronetzwerke stärken und befähigen
Lokale Stakeholder, Kommunalpolitik sowie die Einheimischen (Vereine/ Verbände etc.) in die visitor economy einbinden. Dabei geht es nicht nur um Konsultation, sondern um gemeinsame Entscheidungsfindung und Co-Kreation.
Kommunikation der Aufgabenstellung anpassen
Die DMO muss die Politik unterstützen, touristische und infrastrukturelle Entscheidungen treffen zu können. Die Vorbereitung auf Gemeinderatssitzungen, Ausschusssitzungen oder andere Gremien gewinnt an Bedeutung.
Stakeholdern & Einheimischen muss klar kommuniziert werden, für welche Zielgruppe „Erlebnisse“ gestaltet werden und was sie den Gästen vermitteln sollen.
Aufgaben und Kompetenzen neu priorisieren
Bisherige Aufgaben können aufgrund von nicht vorhandenen Ressourcen in den Destinationen teilweise aufgegeben oder outgesourct werden. Somit schafft man Kapazitäten, um die Schlüsselfunktion im „community based“ Tourismus umsetzen zu können. Hier ist zu prüfen, welche Aufgaben neu priorisiert werden oder aufgegeben werden müssen.
Stabstelle „Community Manager“ schaffen
Die neue Position könnte die Schnittstelle zwischen Tourismus, Politik und Stakeholdern bilden, die lokale Netzwerke pflegen, Synergien herstellen und Beteiligungsmöglichkeiten gestalten.
Informationsaustausch auf europäischer Ebene
Es gibt viele Destinationen und Netzwerke, die sich mit der Zukunft des Tourismus beschäftigen und Ideengeber auch für lokale Lösungen sein können. Dies gilt auch und besonders in Zeiten geo-politischer Krisen und der damit verbundenen Herausforderungen.







